Vortrag
Arbeit, Behinderung, Krise – Wie geht es weiter?
05. November 2020

Am 05.11.2020 eröffneten das Transfernetzwerk Soziale Innovation - s_inn, der Sozial-Wissenschaftsladen und das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) der EvH RWL die Vortragsreihe „Behinderung in Zeiten von Corona“. Den Auftakt machte Frieder Kurbjeweit mit seinem Vortrag zum Thema „Arbeit, Behinderung, Krise – Wie geht es weiter?“, der viele wichtige Aspekte aufdeckte und beim Publikum eine sehr rege Diskussion auslöste.

Kurbjeweit setzte sich in seinem Vortrag mit der Frage auseinander, wie die Corona-Situation aus Sicht der Disability Studies zu bewerten sei und welche Bedeutung sie insbesondere für die Behindertenbewegung habe.

Zunächst stellte Kurbjeweit fest, dass die Situation behinderter Menschen in diesen Zeiten unter Corona auf der gesellschaftlichen Ebene kaum mitgedacht werde. Er verwies dabei auf politisch legitimierte Sondersysteme wie Behindertenwerkstätten, -einrichtungen und -heime, deren ohnehin bestehende Isolation unter Corona mit dem Vorwand des „Schutzes von Risikogruppen“ noch weiter verstärkt werde. Zugleich brächten gerade diese in sich abgeriegelten Systeme erhöhte Infektionsgefahr mit sich, welche erschütternderweise schon zu einem Anstieg von Todesfällen in stationären Einrichtungen geführt habe.

Die Gleichgültigkeit der Gesellschaft für die Situation behinderter Menschen werde dabei auch in den medialen Debatten um die sogenannte Triage deutlich – und zwar bei der Frage, nach welchen Kriterien die Vergabe von Intensivbetten bei erschöpften personellen Kapazitäten in Kliniken zu erfolgen habe. Nach den Richtlinien der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat etwa ein junger Familienvater ohne bekannte Vorerkrankungen bessere Chancen auf eine Intensivbehandlung als ein kleinwüchsiger Mensch, dessen Lungenvolumen aufgrund von Glasknochen eingeschränkt ist.

Zeigte sich zu Beginn der Pandemie in der deutschen Bevölkerung noch eine große Solidarität mit gesundheitlich gefährdeten Menschen, hat sich dies mittlerweile gewandelt. Zunehmend lauter wird der Vorwurf des Freiheitsentzuges und der Missachtung von Grundrechten, die offensichtlich nur für Menschen mit gutem gesundheitlichen Zustand gelten sollten.

Welchen geringen Stellenwert die Rechte behinderter Menschen in diesen Zeiten der (gesundheits)politischen Krise haben, wurde auch deutlich, als die Bundesregierung versuchte, das in der Behindertengemeinschaft scharf kritisierte Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG ) im Eilverfahren durchzusetzen, im letzten Moment wurde dies glücklicherweise vertagt.

Einzelne positive Aspekte brachte die Pandemie durchaus mit sich, z.B. die verstärkte Digitalisierung, die den Erhalt bzw. teilweise sogar die Erweiterung von sozialen Kontakten ermöglicht, und die Verlagerung von auswärtigen Dienstorten ins Homeoffice, sodass die Strapazen des Arbeitsweges wegfallen. Jedoch können die Verbesserungen in einigen wenigen Bereichen des Alltags nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die COVID-19-Pandemie die Lebenssituation zahlreicher behinderter Menschen besonders verschärft. Das gilt insbesondere für Menschen, die zwingend auf gesunde Assistenzpersonen angewiesen sind. Ganz praktisch stellt dies alle Beteiligten vor große Herausforderungen, da die Assistenzpersonen in der Regel aus verschiedenen Haushalten kommen.

Für die Behindertenbewegung gelte – so das Fazit des Vortrags –, dass sie in diesen Zeiten einen außergewöhnlich langen Atem brauche und ihre Stimme mehr denn je erheben müsse. Die Rechte behinderter Menschen dürfen nicht noch weiter unterlaufen werden und die UN-Behindertenrechtskonvention darf in der Krisensituation nicht völlig in Vergessenheit geraten. Grundrechte sind Menschenrechte, sie sind unteilbar und gelten für alle Menschen unabhängig von Gesundheit, Behinderung, Alter, sozialem Status – und zu jeder Zeit.

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