Online-Veranstaltung
Armut in Zeiten von Corona – zwischen größerer Verletzbarkeit und Solidarität?
18. Februar 2021

Am 4. Februar 2021 fand von 18 bis 20 Uhr die dritte Veranstaltung der Reihe „Zeit der Pandemie – Herausforderung Solidarität“ statt.

Mit den Folgen der Pandemie für Menschen, die sich – gerade im Falle von Wohnungslosigkeit – in einer ohnehin vulnerablen Lebenssituation befinden, wurde ein Thema aufgegriffen, das im Winter noch an Brisanz gewonnen hat: Aktuelle Online-Petitionen fordern etwa die ausgeweitete Hotelunterbringung wohnungsloser Menschen, um sie besser als bisher zu schützen. Über solche Lösungsansätze, aber auch die ungleichheitsverstärkende Wirkung von Corona und Alltagserfahrungen während der Pandemie, fand an dem Abend ein intensiver Austausch mit den Gästen Prof. Dr. Uwe Becker (EvH RWL), Hubert Ostendorf (Gründer und Geschäftsführer von fiftyfifty, Düsseldorf) und Sandra Martini (u.a. Verkäuferin des Straßenmagazins fiftyfifty) statt. Über Zoom und YouTube nahmen etwa 50 Interessierte aus Hochschule, Praxis und Gesellschaft teil.

Verstärkung sozialer Ungleichheit durch Corona – die Rückkehr in die präpandemische Normalität ist keine Lösung

In seinem Impulsvortrag stellte Prof. Dr. Uwe Becker dar, in welcher Weise die Pandemie bestehende soziale Ungleichheiten weiter verstärke. Zum einen sei es keineswegs für alle Bürger_innen gleichermaßen möglich, sich gegen das Virus zu schützen – sich also „präventiv in Rückzugsorten virenfreier Privatquartiere“ aufzuhalten. Entgegen der Bezugnahme auf eine quasi egalitäre „Gemeinschaft“ in aktuellen Corona-Diskursen seien etwa Beschäftigte aus dem Gesundheitssektor oder Verkäufer_innen „immunologisch verletzbarer“ als andere – und dies gelte umso mehr für Geflüchtete in Sammelunterkünften aber natürlich auch wohnungslose Menschen. Zum anderen zeigten aktuelle Statistiken deutlich, dass materielle Einbußen vor allem Arbeitnehmer_innen mit ohnehin geringeren Einkommen beträfen, sodass die Pandemie das Armutsrisiko erhöhe bzw. ausweite.

In den medialen und politischen Corona-Diskursen blieben genau diese Zusammenhänge weitgehend unberücksichtigt: Hier dominiere, so Uwe Becker, ein „virologisches Agenda Setting“ und die Betonung vermeintlich objektiver Sachzwänge. Während die pandemiebedingten Folgen für die Wirtschaft oder Schulen großen Raum einnähmen, fänden sich weit weniger Beiträge zu der schwierigen Situation von Geringverdiener_innen, Leistungsbeziehenden oder wohnungslosen Menschen. Solidarität werde vor allem als „Abstandhalten“ definiert – andere Formen blieben hingegen außen vor, was der aktuell beschlossene Einmalzuschlag von 150 Euro für Grundsicherungsbeziehende eindrücklich belege.  

Uwe Becker betonte, dass das vielbeschworene Ziel einer Rückkehr zum Normalzustand der „präpandemischen Realität“ äußerst kritisch gesehen werden müsse. Denn diese Realität habe sich schließlich durch einen parallelen Anstieg von Bruttoinlandsprodukt und Armutsquote sowie durch eine „mentale und empathische Immunität“ gegenüber besonders verletzbaren Bürger_innen ausgezeichnet. Ein „Weiter so“ wäre insofern, hier nahm Uwe Becker abschließend Bezug auf ein Zitat von Walter Benjamin, eine „Katastrophe“.

Einblicke aus der Praxis: Rückzugsmöglichkeiten nehmen ab, die Unsichtbarkeit nimmt zu  

Hubert Ostendorf und Sandra Martini bestätigten im anschließenden Gespräch die gravierend negativen Folgen der Pandemie für wohnungslose Menschen. Corona sei für seine Klient_innen „katastrophal“, so Hubert Ostendorf, da sie im Lockdown einen massiven Einbruch bei den Zeitungsverkäufen und Spenden von Passant_innen erlebten. Sandra Martini schilderte vor allem die zunehmende Unsichtbarkeit, die sie seitdem im öffentlichen Raum wahrnehme: Vor der Pandemie habe sie an einem zentralen Düsseldorfer Platz ihre Zeitungen verkauft und sei mit vielen Bürger_innen ins Gespräch gekommen. Im Lockdown fühle sie sich hingegen wie eine Art „Schattendiva“, die man nicht sehe und auch nicht sehen wolle. Es gäbe zwar immer wieder spontane Hilfe von einzelnen Passant_innen. Vor allem bedeute der Lockdown aber, in der Stadt kaum noch Rückzugsräume – etwa kostenlos zugängliche Toiletten in Kneipen oder Restaurants – zu finden, was gerade im Winter „sehr schlimm“ sei. Die aktuelle Situation von Wohnungslosen wurde in der anschließenden Diskussion auch mit Blick auf andere Städte thematisiert. Obwohl in Hamburg in diesem Winter bereits 12 Menschen gestorben seien, verweise die Stadt weiterhin, wie ein Teilnehmer berichtete, auf das bestehende Winternotprogramm, anstatt die Einzelunterbringung in leerstehenden Hotels und Pensionen zu fördern.

 

Grundsätzliche Veränderungen sind erforderlich     

In der Diskussion wurden einerseits lokale Unterschiede hinsichtlich der Bereitschaft deutlich, in der Pandemie auch alternative Formen der Unterstützung für Wohnungslose zu ermöglichen. In Düsseldorf, so Hubert Ostendorf, zeige sich auf Seiten der Politik etwa eine ziemlich große Offenheit. Andererseits bestand Konsens darüber, dass grundsätzlichere Veränderungen angestoßen werden müssten, um Wohnungslosigkeit nachhaltig – also unabhängig von der Pandemie –  zu bekämpfen. Eine breite Anwendung des Housing first-Ansatzes, den fiftyfifty bereits seit einigen Jahren erfolgreich umsetzt, wurde hier genauso genannt wie eine verbindliche Berücksichtigung wohnungsloser Menschen bei der Vergabe sozial geförderter Wohnungen. Nur mit solchen Maßnahmen könne man angesichts steigender Mieten und des zunehmenden Verdrängungswettbewerbs auf dem Wohnungsmarkt Verbesserungen erreichen. Eine Rückkehr in die „präpandemische Realität“ wurde also auch in der Diskussion als erstrebenswertes Ziel abgelehnt. 

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