Beginn der Vortragsreihe
Dis/Ability der Gegenwart und der Zukunft – Perspektiven der Behindertenbewegung und der Disability Studies
01. Juni 2022

Am 26.04.2022 fand die erste Online-Veranstaltung der Vortragsreihe “Dis/Ability der Gegenwart und der Zukunft – Perspektiven der Behindertenbewegung und der Disability Studies“ des Sommersemesters 2022 statt. Organisiert wird die Veranstaltungsreihe vom Transfernetzwerk Soziale Innovation – s_inn und dem Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS). Unter der Überschrift “Selbstbestimmung von Mädchen* mit Behinderung“ beleuchteten die Repräsentantinnen der LAG autonome Mädchenhäuser/feministische Mädchenarbeit NRW e. V. und des Netzwerks Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW die Lebenswirklichkeiten und Selbstbestimmungsrechte von Mädchen* und jungen Frauen* mit Behinderung. Ergänzt wurde die Präsentation durch einen Impulsvortrag von Prof’in Dr. Kathrin Römisch (EvH RWL). Über Zoom und YouTube nahmen ca. 40 Interessierte teil.

Den Einstieg machte Claudia Seipelt-Holtmann, Diplom-Sozialpädagogin, Lehrbeauftragte an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho) sowie Mit-Gründerin und Sprecherin des Netzwerks Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW: Sie stelle das Netzwerk und seine Arbeit vor. Das Netzwerk ist ein offener Zusammenschluss von Frauen mit Behinderung und psychischer Erkrankung, die in ehrenamtlicher Arbeit intersektionelle Diskriminierung und Benachteiligungen von behinderten und chronisch kranken Frauen* und Mädchen* aufzeigen.

Im Rahmen des aus dem Netzwerk entstandenen Netzwerkbüros beschäftigen sich hauptamtliche Mitarbeitende mit den Schwerpunktthemen Gesundheit, Freizeit, Barrierefreiheit und Elternschaft, welche u.a. in Form von Gremienarbeit und Vorträgen behandelt werden.

Anschließend gab Renate Janßen als geschäftsführende Fachreferentin der Landesarbeitsgemeinschaft der Autonomen Mädchenhäuser/ feministische Mädchenarbeit NRW e. V. (LAG) und Leiterin der Fachstelle Interkulturelle Mädchenarbeit NRW einen Einblick in deren Arbeit. Die LAG ist ein autonomer Zusammenschluss von sechs Mädchenhäusern und Einrichtungen in NRW, die sich unter dem Themenschwerpunkt Lebenslagen von Mädchen* und jungen Frauen* in NRW sowohl mit der Entwicklung von Angeboten als auch als gesellschaftspolitische Querschnittaufgabe in verschiedenen politischen Feldern auseinandersetzen.

Als Referentin des Netzwerkbüros gab Maren Grübnau unter der Überschrift “Es gibt nicht DAS Mädchen“ zunächst eine statistische Einführung. Anschließend stellte sie heraus, dass die Gesellschaft von Mädchen* erwartet, dass sie eine passive, unselbstständige Rolle übernehmen und die eigentlichen Ressourcen nachträglich betrachtet werden. Bei Mädchen* mit Behinderung stehe das Merkmal Behinderung, welches die Zuschreibungen ‚schwach‘, ‚unselbstständig‘ und ‚unattraktiv‘ beinhalte, im Vordergrund. Deshalb fordert der Arbeitskreis Mädchen*arbeit inklusiv, dass Mädchen* mit Behinderung in ihrer Ganzheit wahrgenommen und verstanden werden.

Darauf folgte eine kurze rechtliche Einordnung von Selbstbestimmung als Menschenrecht durch Kristin Langer, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Interkulturelle Mädchenarbeit NRW, die das Selbstbestimmungsrecht in der Freizeit von Mädchen* mit Behinderung thematisierte. Selbstbestimmung meint, dass jede*r das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung in jedem Lebensbereich hat.
Mädchen*arbeit inklusiv versteht Freizeit ganzheitlich und betrachtet neben den Chancen wie bspw. Persönlichkeitsentwicklung durch die eigene Erfahrung in sozialen Kontexten auch die Risiken. Dazu gehört unter anderem, dass Mädchen*‘ mit Behinderungen durch wenig inklusive Freizeitangebote sowohl institutionell als auch in ihrem sozialen Umfeld Ausgrenzung erfahren und dadurch entmutigt werden können. Lösungsansätze sind einerseits, dass Fachkräfte behinderte bzw. chronisch kranke Mädchen* in der Konzeptentwicklung und Durchführung von Angeboten mitdenken und barrieresensibel ihre eigene Haltung reflektieren. Um Fremdbestimmung zu vermeiden, müssen Mädchen* mit Behinderung gezielt angesprochen werden und als Expert*innen bei der Entwicklung von Konzepten mit einbezogen werden. Andererseits ist es wichtig, die Mädchen* sowohl durch den Peer-to-Peer-Ansatz als auch durch Freiräume zum Ausprobieren von ‚mädchenuntypischen‘ Aktivitäten zu empowern.

Claudia Seipelt-Hofmann schloss den Vortrag mit der Aufforderung, dass Eltern und Multiplikator_innen im Bereich Erziehung durch Zutrauen des Kindes in das eigene Handeln Freiräume schaffen müssen, damit Mädchen* mit Behinderung sich selbst erfahren und ein positives Selbstbild entwickeln können, indem sie im Kontakt mit Peers Lösungsmöglichkeiten selbst kreativ suchen und umsetzen.

Der darauffolgende Impulsvortrag von Prof’in Dr. Kathrin Römisch knüpfte in vielen Punkten an den Vortrag an, wobei sie den Fokus auf die reproduktiven Rechte richtete. Obwohl diese als Menschenrechte klar formuliert seien, würden Mädchen* mit Behinderung an deren Ausübung gehindert, bswp. durch Überbehütung. Um dem entgegenzuwirken, sei es zum einen wichtig, sexuelle Bildung mehr zu forcieren, um Mädchen* mit Behinderung so zu stärken und zu informieren, dass sie selbstbestimmte und autonome Entscheidungen in Bezug auf ihre Sexualität treffen könnten. Zusätzlich müsse ihnen das Recht zugestanden werden, Fehler zu machen und auch falsche Entscheidungen zu treffen. Zum anderen müsse der Zugang zu Informationen, Gesundheitsversorgung und Angeboten barrierefrei werden und eine ableismussensible Kultur in Angeboten geschaffen werden, damit Mädchen* mit Behinderung diese auch wahrnehmen können.

In der abschließenden regen Diskussion wurden die aktuellen gesellschaftspolitischen Hürden und darauf bezogene Forderungen bzw. Lösungsansätze nochmals unterstrichen. Die UN-Behindertenrechtskonvention müsse in den verschiedenen Politik- und Handlungsfeldern wahrgenommen und umgesetzt werden, sodass Zuständigkeiten für Mädchen* mit Behinderung weiter gefasst würden. Außerdem müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Inklusion Geld koste und dieses auch investiert werden müsse, wenn langfristig Änderungen erfolgen sollen. Auch in der Kinder- und Jugendhilfe müsse mehr Bewusstsein geschaffen werden für die Bedarfe von Mädchen* mit Behinderung, da aktuell durch eine fehlende Vernetzung zwischen Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe Versorgungslücken entstehen.

Kontakt