Online-Veranstaltung "Einschränkung vs. Freiheit – Spannungen in der stationären Pflege"
24. November 2020

Mit dem Spannungsverhältnis zwischen Einschränkung und Freiheit in der stationären Pflege wurde ein angesichts hoher Infektionszahlen erneut hochaktuelles Thema aufgegriffen. Prof‘in Dr. Dr. Sigrid Graumann (Rektorin EvH RWL), Jörg Klomann (Leiter eines Pflegeheims) und Birgit Raffelsieper (Angehörige) diskutierten die Situation in Pflegeheimen aus unterschiedlichen Perspektiven. Über Zoom und YouTube nahmen etwa 80 Interessierte aus Hochschule, Pflege und Gesellschaft teil.

Am 16.11.2020 fand von 18 bis 20 Uhr die zweite Veranstaltung der Reihe “Zeit der Pandemie – Herausforderung Solidarität“ statt.

 Aus den Erfahrungen im Frühjahr müsse kurz- und langfristig gelernt werden     

In ihrem Impulsvortrag betonte Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann, dass sich die massive Einschränkung von Selbstbestimmungs- und Teilhaberechten sog. Risikogruppen nicht wiederholen dürfe. Dies gelte für Pflegeheime ebenso wie für Einrichtungen der Eingliederungshilfe, deren Bewohner_innen von ähnlichen und “über ihre Köpfe hinweg“ entschiedenen Restriktionen betroffen gewesen seien.

Die Maßnahmen wären im Frühjahr angesichts oftmals noch fehlender Schutzausrüstung “nachvollziehbar und auch ethisch gerechtfertigt“ gewesen. Forderungen, Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko erneut zu isolieren, sollten aber sehr kritisch gesehen werden. Denn die Bewohner_innen von Pflegeheimen hätten aufgrund ausgesetzter Therapien an kognitiven oder körperlichen Ressourcen eingebüßt und selbst Sterbende häufiger auf die Begleitung nahestehender Personen und seelsorgerischen Beistand verzichten müssen.

Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, gerade auch die ethische Dimension von Einschränkungen mehr zu berücksichtigen. Sigrid Graumann verband diesen Appell zugleich mit konkreten Vorschlägen für die Praxis. Zu diesen gehörten eine individualisierte Betrachtung von Vulnerabilität, die Einbeziehung der Betroffenen in die Entscheidungen sowie eine ausreichende Verfügbarkeit möglichst sicherer Schnelltests. Darüber hinaus betonte sie, dass eine langfristige Lösung vor allem in der Schaffung kleinerer Wohngruppen und konsequenter Bezugspflege bestehe – nicht nur, weil damit das Infektionsrisiko reduziert, sondern auch “die krisenfeste Betreuung und Versorgung gewährleistet“ werden könne.       

Einblicke aus der Praxis: Schließungen waren starke Belastung für alle Beteiligten  

Jörg Klomann und Birgit Raffelsieper bestätigten anschließend die Belastungen, die während des ersten Lockdowns für die Bewohner_innen, aber auch für Angehörige, Leitung und Pflegekräfte entstanden seien. Ohne Spielraum für Aushandlungsprozesse habe man im Frühjahr “ad hoc die Türen zu und die Rolladen runter“ machen müssen, so Pflegeheimleiter Klomann. Trotz des großen Einsatzes der Pflegekräfte und Lösungsansätzen wie Besuchsfenstern sei die Situation für viele Bewohner_innen sehr schwierig gewesen. Dies berichtete auch Frau Raffelsieper als Angehörige. Bei ihrer Mutter habe sich etwa eine deutliche “Verzweiflung“ gezeigt, als der unmittelbare Kontakt zu der Familie mehrere Wochen fehlte. Der tiefe Einschnitt durch Corona spiegelte sich zusätzlich in eingespielten O-Tönen einiger Bewohner_innen wider. Neben der Sorge, sich anzustecken, wurden dort ebenso die Einschränkungen thematisiert. Die Schließung des Pflegeheims käme für sie einer “Freiheitsberaubung“ gleich, so eine der Bewohner_innen.

Positive Aussichten für die nähere Zukunft?    

Die Einschätzung der näheren Zukunft fiel bei Jörg Klomann eher optimistisch aus. Die angekündigten Schnelltests seien zwar kein “Allheilmittel“, zumal sie von ohnehin überlasteten Pflegekräften durchgeführt werden müssten. Die Tests vergrößerten aber die Chance, die Heime geöffnet halten zu können. Zudem priorisiere die Politik in NRW mittlerweile stärker die soziale Teilhabe der Bewohner_innen und habe insofern aus den Erfahrungen gelernt. Sigrid Graumann war an dieser Stelle skeptischer und sah die Gefahr erneuter Schließungen von Einrichtungen.

Einigkeit bestand hingegen darüber, dass sich die jüngere Generation weitaus rücksichtsvoller und solidarischer verhalte als in aktuellen Diskursen nahelegt werde. Schuldzuweisungen an die Jüngeren, hedonistisch und zu Lasten des Schutzes vulnerabler Älterer zu agieren, seien weder zutreffend noch hilfreich. Diese “Sündenbockgeschichte“, so Graumann, sei ein diskursiver “Klassiker“, der in Zeiten von “Disziplinierungsaufrufen“ und der Durchsetzung “neuer Normen“ fast immer auftauche.

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum wurde sowohl die schwierige Situation in der Pflege als auch u.a. die Forderung von Sigrid Graumann aufgegriffen, Angehörige sog. Risikogruppen stärker an Entscheidungen zu beteiligen und eine Abkehr von großen Einrichtungen voranzutreiben. Graumann betonte hier, dass die finanziellen Mittel für solche Veränderungen, dies habe die Pandemie deutlich gezeigt, eigentlich vorhanden seien. Was letztlich fehle, sei ein entsprechender “politischer Wille“. 

Vortrag von Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann

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