Über die notwendige Einbeziehung von Problemen und Bedarfen, die über Fragen des Wissenserwerbs hinausreichen, und über die aktuelle Situation an Schulen diskutierten an dem Abend Prof.‘in Dr. Heike Wiemert (katho NRW, Institut für Forschung und Transfer in Kindheit und Familie), Henry Godglück (Schulleiter der Gertrud-Bäumer-Realschule, Dortmund), Dr. Lars Meyer (u.a. Schulsozialarbeiter an einem Berufskolleg) und Timon Nikolaou (Schülervertreter der LSV NRW). Über Zoom und YouTube nahmen etwa 60 Interessierte aus Hochschule, Praxis und Gesellschaft teil.
Weitreichendere Folgen von Distanz und Homeschooling für Schüler_innen
In ihrem Impulsvortrag betonte Prof.‘in Dr. Heike Wiemert, dass die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche weitreichend sind oder dies zumindest sein können.
Sie ging dabei zunächst – u.a. im Rückgriff auf theoretische Konzepte von Pierre Bourdieu – auf das Problem der Bildungsungleichheit ein, welches sich unter den Bedingungen der Pandemie weiter verstärke. Aktuelle Studien zeigten darüber hinaus aber gerade, so Prof.‘in Wiemert, dass unter Kindern und Jugendlichen auch psychische Probleme in Form von etwa Ängsten und Zukunftssorgen zunähmen. Neben den eigenen schulischen oder beruflichen Aussichten wäre bspw. ebenso die ökonomische Situation der Familie ein belastendes Thema. Für Kinder und Jugendliche käme sehr erschwerend hinzu, dass in der Pandemie Begegnungen mit Peers außerhalb des familiären Rahmens massiv eingeschränkt wurden. Damit fehlten ihnen, so Prof.‘in Wiemert, soziale Räume, die ohnehin für ihre Identitätsentwicklung, aber auch für die Entlastung von aktuellen Problemen zentral seien.
Schule als ersehnter sozialer Ort – und als Ort begrenzter Handlungsspielräume?
In der anschließenden Diskussion mit den weiteren Gästen wurde zunächst die große Bedeutung von sozialen Orten außerhalb der Familie bestätigt, zu denen auch die Schule gehöre. So berichtete der Schulleiter Henry Godglück etwa, dass Schüler_innen nach den ersten Öffnungen ihm gegenüber „freudestrahlend“ betont hätten, „glücklich“ über die Möglichkeit des Schulbesuchs zu sein. Und Dr. Lars Meyer ergänzte aus der Perspektive der Schulsozialarbeit, wie wichtig es gewesen sei, auch während der langen Phasen des Distanzunterrichts weiterhin vor Ort für die Schüler_innen ansprechbar zu bleiben.
Damit wechselte die Diskussion relativ schnell zu dem problematischen Aspekt der ungleich verteilten und oftmals unzureichenden Ressourcenausstattung: Denn während Lars Meyer an seiner Schule mit drei weiteren Sozialarbeiter_innen ein Team bildet, sei die Situation an vielen anderen Schulen, so der Konsens der Gäste, eine deutlich andere. Unterschiede zeigten sich nicht nur, wie u.a. Timon Nikolaou als Schülervertreter für NRW resümierte, bei sozialarbeiterischen Angeboten, sondern auch den digitalen Ressourcen und den Möglichkeiten, Hygieneschutzmaßnahmen überhaupt „vernünftig“ umsetzen zu können.
Im Ergebnis, so Henry Godglück, hätten Leitungen und Lehrkräfte nicht selten unter Bedingungen (infra-)strukturellen Mangels die Verantwortung für die Bewältigung schwieriger Herausforderungen tragen müssen. Hierzu gehöre auch, einen Teil der Schüler_innen über die Distanz nicht mehr wirklich „zu erreichen“ und möglicher Weise langfristig „zu verlieren“.
Verbindlichere Partizipation und Interdisziplinarität als Lösungswege
Ein kritischer Blick auf die Situation von Schulen und Schüler_innen während der Pandemie spiegelte sich ebenso in Äußerungen von Teilnehmenden aus dem Publikum wider. Um nicht bei einer Krisendiagnose „stehenzubleiben“, wurden vor allem zwei Aspekte diskutiert, die zu strukturellen und nachhaltigen Verbesserungen führen könnten.
Timon Nikolaou betonte die Bedeutung einer verbindlicheren Partizipation von Schüler_innen. Schülervertreter_innen wie er hätten während der Pandemie die Erfahrung gemacht, mit Forderungen oder Problemanzeigen auf ministerialer Ebene nicht genügend Gehör zu finden, sodass hier gerade auf politischer Ebene Handlungsbedarf bestehe. Lars Meyer und Henry Goldglück gingen nicht zuletzt auf den Mehrwert einer engen Vernetzung zwischen Lehrer_innen und Schulsozialarbeiter_innen ein, der sich bereits während der Pandemie gezeigt habe. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit sollte zukünftig noch verstärkt und – je nach Bedarf – auch weitere Fachrichtungen einbeziehen.