Vortrag
Rassismus – ein sichtbares Problem in der Gebärdensprachgemeinschaft?
09. Juni 2021

Am 20. Mai 2021 fand der zweite Vortrag der Veranstaltungsreihe “Nachteil hoch zwei plus x – Intersektionalität im Kontext von Behinderung“ statt; organisiert vom Transfernetzwerk Soziale Innovation – s_inn und dem Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS).

Asha Rajashekhar: Taub und von Rassismus betroffen bedeutet Diskriminierung auf mehreren Ebenen

Diesmal referierte Asha Rajashekhar über “Rassismus – ein sichtbares Problem in der Gebärdensprachgemeinschaft?“. Sie ist Lehrerin, interkulturelle Koordinatorin an der Elbschule Hamburg und Beauftragte für Schule beim Gehörlosenverband Hamburg e.V. Durch ihre Taubheit ist sie bilingual mit deutscher Gebärdensprache und Schriftsprache aufgewachsen. Der Vortrag richtete sich nach der Frage “Welche Rassismuserfahrungen machen taube Menschen im Alltag?“ und wurde in drei Hauptthemenpunkte unterteilt. Als erstes erläuterte Asha Rajashekhar den Begriff Gebärdensprachgemeinschaft und grenzte ihn vom Begriff Gehörlosengemeinschaft ab. Im Weiteren wurde aufgezeigt, dass taube Menschen sowohl innerhalb der hörenden Mehrheitsgesellschaft als auch in der Gebärdensprachgemeinschaft diskriminiert werden. Diese Diskriminierung aufgrund der Taubheit wird als Audismus bezeichnet. Audismus findet sowohl auf individueller, struktureller und ideologischer Ebene statt. Zum besseren Verständnis des Begriffs wurde das kurze Video “5 Signs of Audism“ gezeigt.  Dadurch wurde nochmal unterstrichen, dass die Gehörlosengemeinschaft oft eine audistische Perspektive der hörenden Mehrheitsgesellschaft erlebt.
 

“Gehörlose Geflüchtete allein unter hörenden Menschen sind besonders von Isolation betroffen“

Im darauffolgenden zweiten Themenschwerpunkt gab es einen kurzen Rückblick zur historischen Entwicklung von Rassismus. Asha Rajashekhar hatte gemeinsam mit Silvia Gegenfurtner Interviews mit von Rassismus betroffenen tauben Menschen durchgeführt. Sie verdeutlichte anhand vieler Beispiele, dass Rassismus sowohl innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft als auch in der hörenden Mehrheitsgesellschaft stattfindet. Schließlich stellte sie die Initiative “Deaf refugees welcome“ vor, um den Aspekt der Intersektionalität bzw. der Mehrfachdiskriminierung deutlich zu machen. So erleben gehörlose Geflüchtete – oft allein unter hörenden Menschen in ihren Unterkünften untergebracht – eine besondere Form der Isolation, weil nur sporadisch Gebärdensprachdolmetschung zur Verfügung steht. Das hat u.a. negative Auswirkungen auf die Integration im fremden Land und Asylverfahren.

Der letzte Themenpunkt bezog sich auf Rassismuskritik und legte den Fokus auf die Bedeutung von Allyship, d.h. die Verbündung von weißen Menschen mit BIPoC (Black, Indigenous and People of Color). Um Rassismus entgegenzuwirken, müssen weiße Privilegien hinterfragt werden, Privilegierte sich als Verbündete sehen und auf Augenhöhe agieren. Auf die Gebärdensprachgemeinschaft bezogen stellt der mangelnde Zugang zu Informationen die größte Herausforderung dar. Literatur und Forschung, sowohl zu Audismus als auch in Kombination mit Rassismus, sind so gut wie nicht existent. Zudem mangelt es an aufklärenden und informierenden Beiträge in Gebärdensprache.
 

Cinur Ghaderi: Allyship und Rassismuskritik müssen Thema in Wissenschaft und Gesellschaft sein

Der Vortrag wurde anschließend von Prof.‘in Dr. Cinur Ghaderi, Professorin im Lehrgebiet Psychologie an der Hochschule RWL in Bochum, mit einem kurzen Statement ergänzt. Sie stellte die Bedeutung des Allyships heraus und bemerkte, dass das Denken in Dichotomien und die Aufwertung der eigenen Gruppe zwar psychologische Mechanismen seien, aber diese auch in soziokulturellen Strukturen stattfänden, also veränderbar seien. “Dass wir Schubladen aufmachen ist gegeben, aber wie diese aussehen – wie tief, wie groß, wie farbig, mit oder ohne Griff – das bestimmen wir selbst.“ Darüber hinaus erwähnte sie ebenfalls die von Asha Rajashekhar erwähnten Wissenslücken in Wissenschaft und Forschung. Beendet wurde der Kommentar mit der Feststellung, dass Rassismuskritik und Allyship nicht nur durch Wissen repräsentiert werden, sondern dass sie auch politisches Handeln erfordern. Zum Schluss stellte Cinur Ghaderi die Frage “Was bedeutet Allyship in der Praxis und vor allem auch in einem professionellen Kontext?“ offen in das Plenum.

Zu dieser Frage äußerten sich in der anschließenden Diskussion sowohl taube als auch hörende Teilnehmer_innen und es wurde sich darüber ausgetauscht, wie Menschen, die sich audistisch und rassistisch verhalten, begegnet werden kann. Dies wurde in verschiedenen Kontexten wie im Alltag oder in der Schule beleuchtet und von Asha Rajashekhar mit ihren Erfahrungen als Lehrerin und interkulturelle Koordinatorin an der Elbschule ergänzt. Konsens bestand darin, dass sowohl innerhalb der Gehörlosengemeinschaft als auch in der hörenden Mehrheitsgesellschaft Aufklärung in diversen Punkten wichtig sei. Außerdem sei es notwendig, Probleme wahrzunehmen und anzuerkennen.

An diesem Vortragsabend erlebten viele hörende Teilnehmer_innen den Nutzen von Gebärdensprach- und Schriftdolmetschenden für sich selbst: Ohne Übersetzung in die Lautsprache hätten sie dem sehr spannenden und wissenschaftlich fundierten Vortrag der tauben Referentin Asha Rajashekhar nicht folgen und keine Diskussion mit anderen gehörlosen Teilnehmenden führen können.

Weitere Informationen zur Vortragsreihe “Nachteil hoch zwei plus x – Intersektionalität im Kontext von Behinderung“ finden Sie unter https://www.bodys-wissen.de/Online-Vortragsreihen.html.

Text: Gudrun Kellermann

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