2. Themenabend in der KatHO Münster
Unterbringung von Menschen mit Behinderung in den 1950er-1970er Jahren
22. Januar 2020

Rund 60 Besucher_innen aus Hochschule, Praxiseinrichtungen und Zivilgesellschaft kamen am 22. Januar 2020 in die KatHO Münster. In Fachvorträgen und Diskussion ging es diesmal um die Deutungs- und Handlungsmuster von Behinderung in der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit.

Unterbringungssituation von Menschen mit Behinderung in Anstalten in der Nachkriegszeit

Nach dem Auftakt der Themenreihe „Exklusion und Inklusion – früher und heute“ mit Dr. Götz Aly im Dezember letzten Jahres fand am 22. Januar 2020 der 2. Themenabend in der KatHO Münster statt. Diesmal stand die wissenschaftliche Aufarbeitung der Unterbringungssituation von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie in der Nachkriegszeit im Fokus. Das Leben in Anstalten war für Menschen mit Behinderung häufig von Exklusion und Gewalt geprägt. In Fachvorträgen mit anschließender Diskussion wurde den Fragen nachgegangen, welche Rahmenbedingungen Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderung in den Anstalten begünstigen, wie sich Ausgrenzung und Gewalt auf die Betroffenen auswirken und welche Relevanz diese Erkenntnisse für aktuelle Inklusionsbestrebungen in der Gesellschaft haben. Dr. Uwe Kaminsky, Historiker am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr Universität Bochum, moderierte.

Der behinderte Mensch – minderwertig und ausgeschlossen von der Gesellschaft

Dr. Nils Löffelbein, Historiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Forscher im Projekt „Unrecht und Leid“ der bundesweiten Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, berichtete von den gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, die Zwang und Gewalt gegenüber minderjährigen Bewohner_innen und Besucher_innen von Einrichtungen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Kliniken in den Jahren 1945-1975 ermöglicht haben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Menschen mit Behinderung von weiten Teilen der Bevölkerung als „minderwertig“ und als Außenseiter_innen betrachtet. Es entsprach der Norm, dass „Behinderte“ in Anstalten, abgesondert von der Gesellschaft, verwahrt wurden. Sie galten als bildungsunfähig und hatten in der Regel keinen Zugang zu schulischer oder beruflicher Ausbildung.

Anstalten als Auffangbecken der deutschen „Zusammenbruchgesellschaft“ 

Die Anstalten der Nachkriegszeit, jeweils aus mehreren tausend Betten bestehend, waren meist in einem baulich sehr schlechten Zustand, mangelhaft ausgestattet und als Auffangbecken der deutschen „Zusammenbruchgesellschaft“ chronisch überbelegt. Das unqualifizierte Personal war mit der Betreuung der Kinder und Jugendlichen überfordert. Oberste Maxime war die Wahrung eines störungsfreien Ablaufs des Anstaltsalltages. Zumeist herrschte ein militärisch anmutender Erziehungsstil.  

Gewalt und Zwangsmaßnahmen in den Anstalten

Bereits geringe Verhaltensauffälligkeiten der Insass_innen wurden mit Strafen geahndet, in einigen Einrichtungen mit massiver Gewalt und Zwangsmaßnahmen (z.B. Schläge, Fixierungen, Isolierungen, Medikamentenmissbrauch). Aufgrund fehlender Öffentlichkeit und staatlicher Kontrollen waren die Minderjährigen der Gewalt und Willkür des Systems Anstalt ausgeliefert. Britta Möwes, Historikerin und Mitgründerin des Vereins MÜNSTER INKLUSIV DENKEN e.V., berichtete über das Zeitzeugenprojekt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) von den traumatischen Gewalterfahrungen der Patient_innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marsberg. Volljährig verblieben die Insass_innen entweder entmündigt in der Anstalt als billige Arbeitshilfen oder litten außerhalb ihr Leben lang stigmatisiert an den Spätfolgen ihrer Gewalt- und Angsterfahrungen.  

Eine inklusive Gesellschaft als Ideal

In der sich anschließenden Diskussion meldeten sich auch Zeitzeug_innen zu Wort. Es ging um (fehlerhafte) Diagnosen als lebenslanger Makel für Betroffene, um Missstände, die bis in die späten 1990er Jahren hineinreichten und welche Konsequenzen aus der Vergangenheit für aktuelle Inklusionsbemühungen zu ziehen sind. Britta Möwes plädierte für einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft, in der Menschen, unabhängig von Diagnosen und Fähigkeiten, gemeinsam leben, lernen und arbeiten können. Alle Menschen könnten so voneinander profitieren.

Die Anlauf- und Beratungsstelle Westfalen der Stiftung Anerkennung und Hilfe

Die Regionale Anlauf- und Beratungsstelle Westfalen-Lippe der Stiftung Anerkennung und Hilfe des LWL in Münster nutzte den Themenabend zur Vorstellung ihrer Arbeit und motivierte Betroffene, sich an sie zu wenden.

Zur Themenreihe

Das Innovation-Lab Münster führt die Themenreihe gemeinsam mit dem Institut für Teilhabeforschung (beide KatHO NRW) und der Stadtkirchengemeinde St. Lamberti Münster durch. Der Verein MÜNSTER INKLUSIV DENKEN e.V. unterstützt sie dabei. Anlass der Themenreihe ist das 10-jährige Bestehen der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland im Jahre 2019.

Die Reihe wird 2020 fortgesetzt zum Thema „Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und der Weg zur UN-Behindertenrechtskonvention“. Weitere Informationen folgen.

Diskussionsbeiträge aus dem Publikum:

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