Potential der Offenen Arbeit für die gemeinsame Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an
Inklusiv und offen
28. Juli 2021
Tristan Steinberger
Agenturleitung
0221/7757 - 465

Unter dieser Überschrift stand die Fachtagung, die am 18. Juni 2021 von der katho, dem Institut für Forschung und Transfer (foki) sowie Caritas Campus am Fachbereich Sozialwesen, Standort Köln mit Unterstützung der Transferagentur s_inn veranstaltet wurde. Rund 130 Fachkräfte aus Einrichtungen der Kindertagesbetreuung, Fachberatung und Jugendämtern nahmen an der online Veranstaltung teil, die ursprünglich im Juni 2020 als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden sollte, pandemiebedingt aber verschoben werden musste.

Heike Wiemert, Professorin an der katho und Gründungsmitglied des Instituts für Forschung und Transfer in Kindheit und Familie (foki) sowie Markus-Linden-Lützenkirchen vom Caritas Campus sind die Verantwortlichen für Konzept und Organisation der Fachtagung, in deren Zentrum die Frage stand, was Kinder mit und ohne Behinderung brauchen, damit sie in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit entsprechend ihren Bedürfnisse individuell betreut und gefördert werden können. Der Fokus der Fachtagung lag auf dem Konzept der Offenen Arbeit. Nachgegangen wurde der Frage, in welcher Weise es geeignet ist, inklusive Prozesse in der Kita zu unterstützen und zu befördern. Thematisiert wurden zudem Auswirkungen der Corona-Pandemie in Einrichtungen, die das offene Konzept leben und welche nachhaltigen Entwicklungen sich abzeichnen.

Im Rahmen von zwei Fachvorträgen sowie sechs praxisnahen Foren wurde ein facettenreicher Einblick in die Offene Arbeit geboten und Austausch mit fachlich ausgewiesenen Referent_innen aus Wissenschaft und Praxis ermöglicht.

Den ersten Fachvortrag hielt Professorin Wiemert mit dem Titel "Inklusive Bildung und Teilhabe – Status Quo im Elementarbereich vor und in der Pandemie". Sie stellte die nach wie vor ungleichen Zugangschancen von Kindern mit und ohne Behinderung in die Kita heraus und zeigte an statistischem Datenmaterial, dass separierende Betreuungsangebote für Kinder mit (drohender) Behinderung immer noch im Bereich der Tagesbetreuung existieren. Bezogen auf die Situation von Kindern mit (drohender) Behinderung und ihren Familien in der Corona-Pandemie konnte sie anhand von Studiendaten zeigen, dass sich sowohl die Kinder als auch die Eltern stark belastet fühlen. Insbesondere der plötzliche Wegfall der Betreuungs-, Pflege- und Therapiemaßnahmen sind hier ausschlaggebend. Zudem werden die Eltern ständig von der Angst der eigenen Corona-Infektion oder die ihrer Kinder begleitet. Erkranken sie selber, fallen sie als Garant für Pflege und Betreuung aus. Erkranken die Kinder, steht zu befürchten, dass sie schwere Verläufe haben. Obwohl die Kitas in NRW seit dem 7. Juni wieder in den Regelbetrieb zurückgekehrt sind, gilt das für einen Großteil der Kinder mit (drohender) Behinderung aus diesen Gründen nicht.

Auch wenn coronabedingt nach 15 Monaten der Betreuung in kleinen Settings sowie in getrennten und geschlossenen Gruppen eine Öffnung wieder möglich ist, endet Wiemert mit der Frage, ob die Kitas sich in das alte oder ein neues "Normal" einfinden werden. Zu diskutieren gilt es, wie die Kinder und Teams dabei unterstützt werden können, in die offene Arbeit zurückzukehren und welche Bedingungen geschaffen werden müssen, sodass auch Kinder mit (drohender) Behinderung an der Betreuung wieder teilhaben können. 

Den zweiten Fachvortrag hat Dr. Gabriele Haug-Schnabel von der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen gehalten. "Worin liegt das Potential der ‚Offenen Arbeit‘ für die Umsetzung von Inklusion in der Kita? Herausforderungen und Chancen erkennen!" so der Titel des Beitrags. Haug-Schnabel setze bei den Herausforderungen der Offenen Arbeit an; jene, die es zu erkennen gilt und denen man sich täglich in Absprache mit den Kolleg_innen stellen müsse. Der wesentliche Vorteil der Offenen Arbeit läge nicht zuletzt darin, dass mehr Fachkräfte ein Kind im Blick haben. "Dies erleichtert eine individuell passende Beantwortung und somit vielfältige Teilhabemöglichkeiten", so Haug-Schnabel. So wird das Beobachten noch bedeutsamer. Wichtige Fragen an das Potential der Offenen Arbeit sind nach Auffassung von Haug-Schnabel: "Berücksichtigen wir Unmutsäußerungen und analysieren wir häufige Konfliktanlässe? Könnten Personaleinsatz, Zeiteinteilungen, Raumgestaltung und rigide Raumregeln sowie kein freier Zugang zu Spiel- und Arbeitsmaterialien am Unmut der Kinder beteiligt sein? Es geht um die Reflexion eines Veränderungsbedarfes!". Zahlreiche Fotos von Kindern in Spiel- und Entdeckungssituationen machten den Vortrag sehr anschaulich und kurzweilig. Die Teilnehmenden fühlten sich abgeholt.

In den anschließenden sechs Foren stand der Blick in und Austausch mit der Praxis im Vordergrund. Monika Brunsberg, Weiterbildungsreferentin und Teamcoach von der Agentur Qualitypack und Michael Obermaier, Professor an der katho und Leitung des foki haben sich im Forum 1 mit Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement für die Offene Arbeit beschäftigt. Dabei wurden Dimensionen von Qualität in den Blick genommen und in Bezug auf die Anforderungen der offenen Arbeit diskutiert. 

Das Thema "Kinderschutz und Aufsichtspflicht" stand im Zentrum des Forum 2. Die Referentinnen Yvonne Mertens und Janina Passek, beide Fachberaterinnen des Landesjugendamtes Rheinland, stellten sich den Fragen der Teilnehmenden, die sich hautsächlich auf das Thema Aufsichtspflicht konzentrierten. Mertens und Passek stellten heraus, dass klare Regeln und Strukturen im Alltag Verbindlichkeiten schaffen und somit Sicherheit geben. Die häufig geäußerte Befürchtung, dass die Aufsichtspflicht in der offenen Arbeit nicht gewährleistet werden kann, weil sich die Kinder in der ganzen Einrichtung frei bewegen können, wurde entkräftet. Schließlich würden sich auch die pädagogischen Fachkräfte in der ganzen Einrichtung verteilen und auf diesem Weg nicht nur die Aufsichtspflicht sichern, sondern auch die Kinder mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen im Blick haben. 

Im Forum 3 "Kein Kind gerät aus dem Blick – Beobachtung und Dokumentation im Austausch mit den  Kolleg*innen" hat Dr. Gabriele Hau-Schnabel die Inhalte ihres Hauptvortrages vertieft. Diskutiert wurde wie wichtig es für die Bebobachtung und Dokumentation ist, die Perspektive der Kinder einzunehmen und zu beleuchten, inwiefern Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechte für Kinder allen Alters und aller Voraussetzungen berücksichtigt und das Wohlbefinden jedes Kindes mit seinen Eigenheiten gewahrt werden können. Das Forum wurde von Mechthild Linden und Daniela Müller-Mereu, beide Fachberaterinnen beim DiCV Köln, begleitet.

Die Zusammenarbeit zwischen Kita und Frühförderung ist ein zentraler Meilenstein auf dem Weg zur Inklusion. So ging es in Forum 4 um die Frage, wie in der offenen Arbeit Teilhabeziele gemeinsam umgesetzt werden können. Entlang der grundlegenden Aspekte der offenen Arbeit einerseits und die der Frühförderung anderseits, zeigten Mathi Vossen-Greib, Leitung eines Frühförderzentrums und Carmen Heinemann, fachliche Begleitung mit Schwerpunkt Inklusion bei der KJF Bonn, Schnittstellen gemeinsamen Handels auf. Außerdem stellten sie vor, wie die Frühförderung als Entwicklungsangebot in den Kitaalltag integriert werden kann. Im Austausch zwischen Fachkräften aus der Frühförderung mit  pädagogischen Fachkräften zeigte sich, dass  unterschiedliche Systemlogiken zu Barrieren werden können. Dies gilt es bewusst zu machen, damit Teilhabeziele von Kindern mit (drohender) Behinderung im offenen Konzept umgesetzt werden können. 

Forum 5 hat sich mit Gelingensfaktoren zur Teamentwicklung im offenen Konzept beschäftigt. Vera Gierling, Einrichtungsleitung und Bianca Kessel, Organisationsberaterin und Coach haben dazu den Entwicklungsprozess einer bestimmten Einrichtung aufgezeigt. Gierling stellte dar, welche Fragen die schrittweise Umsetzung der offenen Arbeit in einer Kita mit 190 Betreuungsplätzen für Kinder mit und ohne Behinderung, sowie heilpädagogischen Plätzen im Team, aufwarfen. Kessel erläuterte ausgehend von Widerständen, die in Teamprozessen bei konzeptionellen Weiterentwicklung programmiert sind, Methoden, die die Teamprozesse unterstützen und eine offen und transparente Kommunikation fördern. 

Die Zusammenarbeit mit Eltern wurde in Forum 6 von Christina Pollmann, Berufsverband für Beratung, Pädagogik & Psychotherapie e. V. (BVPPT) und Susanne Treppmann, Einrichtungsleitung thematisiert. Eltern von sehr jungen Kindern sowie Eltern von Kindern mit (drohender) Behinderung müssen behutsam in die offene Arbeit eingeführt werden, um darauf vertrauen zu können, dass die besonderen Bedürfnisse ihrer Kinder im offenen Konzept wahrgenommen werden. Treppmann konnte anschaulich aus der Praxis berichten und Aspekte für die Zusammenarbeit aufzeigen. Pollmann ergänzte, dass dabei insbesondere der Ermutigung von Eltern eine wichtige Rolle zu kommt.

In der Abschlussrunde fasste Wiemert die Forenergebnisse zuversichtlich wie folgt zusammen: "Die Coranapandemie hat die Arbeit im Offenen Konzept unmöglich gemacht, nun nachdem die Kitas wieder öffnen können, wird die Arbeit sicher nicht im 'alten Normal' von heute auf morgen wieder anlaufen können. Geblieben ist aber die Überzeugung, dass die Offene Arbeit ein hohes Potenzial für die gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung birgt. Es wird spannend sein zu beobachten, zu welchem 'neuen Normal' die Offene Arbeit sich entwickeln wird." 

Als Moderator hat Tristan Steinberger durch die Tagung geführt und Stephan Post, beide Mitarbeiter von s_inn, übernahm die technische Betreuung. 

Die Resonanz im Nachgang zur Fachtagung war sehr hoch und der Wunsch nach weiteren Möglichkeiten zum fachlichen Austausch in diesem Setting wurde mit Nachdruck formuliert. Die Präsentationen der Vorträge finden sie hier.

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