Soziale Arbeit – Menschenrechtsarbeit
26. Juni 2022

Angesichts weltweiter Migrationsbewegungen, des Zusammenlebens in pluralen Gesellschaften und angesichts struktureller, kultureller und personeller Gewalt rücken die Menschenrechte als Kern der Sozialen Arbeit immer stärker in den Fokus. Zu diesem Thema fand am 29./ 30. März 2022 die Fachtagung “Soziale Arbeit – Menschenrechtsarbeit“ im Bürgerzentrum Deutz statt.

Soziale Arbeit und Menschenrechte sind im gesellschaftlichen Konsens untrennbar miteinander verbunden. Doch was macht Soziale Arbeit als “Menschenrechtsarbeit“ eigentlich aus? Ist die Menschenrechtsprofession eine klare Zuschreibung oder Selbstmandatierung? Wie kann eine Wahrung der Menschenrechte überhaupt in unterschiedlichen politischen und religiösen Bezugssystemen sichergestellt werden, insbesondere angesichts aktueller globaler Krisen? Die Fachtagung, welche schon 2020 geplant und durch die Pandemie verschoben werden musste, versuchte auf diese und weitere Fragen in hybridem Format Antworten zu finden. Veranstaltet wurde sie von dem Bürgerzentrum Deutz, der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (katho), der Hochschule Düsseldorf (HSD), dem Landesverband Nordrhein-Westfalen der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) und dem Transfernetzwerk Soziale Innovation – s_inn. Die Tagung richtete sich an Fachkräfte aus unterschiedlichen sozialen Berufsgruppen sowie Studierende, Forschende und Lehrende aus der Sozialen Arbeit. Sämtliche Vorträge wurden in einem Livestream übertragen. Die Online-Zuschauer_innen bekamen die Möglichkeit, durch einen begleitenden Chat, der durch das Transfernetzwerk betreut wurde, an den Diskussionen teilzunehmen.

 

Engagierte Diskussionen und persönlicher, emotionaler Austausch am ersten Tagungstag

Schon in den eröffnenden Worten durch Herrn Tobias Kempf vom Bürgerzentrum Deutz, sowie den Mitveranstaltenden Maike Nadar von der Hochschule Düsseldorf, Prof. Dr. Joachim Söder von der katho Köln und Tristan Steinberger vom Transfernetzwerk s_inn wurde deutlich, dass das Thema Menschenrechte nicht nur durch die Ereignisse der letzten zwei Jahre immer größeren Stellenwert eingenommen hat. Angesichts aktueller Krisen, wie der Covid-19 Pandemie oder dem Krieg in der Ukraine, aber auch durch Bürgerkriege und Krisen in den unterschiedlichsten Teilen Europas und der Welt, stellt sich immer wieder die Frage nach der Rolle der Menschenrechte. Nicht zuletzt müsse immer wieder diskutiert werden, welche Bedeutung diese für die Profession der Sozialen Arbeit haben.

Prof. Dr. Albert Scherr der Universität Freiburg nahm in seinem ersten, eröffnenden Vortrag, eine kritische Position gegenüber der Sozialen Arbeit als “Menschenrechtsprofession“ ein. Er sprach von einer “Selbstmandatierung“ und warf damit die Frage auf, ob diese angesichts limitierender rechtlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen in den unterschiedlichen Ländern überhaupt gesellschaftlich wirkungsmächtig sei. Dabei sprach er von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als sogenannte “Soft Law“, die zwar zu einer Thematisierung von Menschenrechtsverletzungen beitragen würde, jedoch keine juristische Geltung hätte. Für die Soziale Arbeit ergebe sich daraus ein klarer Auftrag des professionspolitischen Eintretens für Klient_innen, die einer Verletzung oder Einschränkung ihrer Rechte ausgesetzt sind.

Eine weitere Sichtweise auf die Soziale Arbeit als “Menschenrechtsprofession“ eröffnete Prof.‘in Dr. Nivedita Prasad, Professorin und Leiterin des gleichnamigen Master-Studiengangs an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Sie reagierte auf den Beitrag von Albert Scherr mit einer Gegenposition, indem sie erklärte, dass die Menschenrechte für jeden Bereich der Sozialen Arbeit grundlegend seien. Sie appellierte, den Blick nach innen zu richten und für Menschenrechtsverletzungen im Inland und in der eigenen Profession zu sensibilisieren. Sie sprach von Menschenrechten als Analyseinstrument der Sozialen Arbeit, mit welchem individuelle, institutionelle und strukturelle Menschenrechtsverletzungen untersucht und öffentlich gemacht werden können. Damit stellten die Menschenrechte eine ernstzunehmende Machtquelle der Sozialen Arbeit dar, durch die mandatswidrige Forderungen des Staates und von Arbeitgeber_innnen mit Hinweis auf den bestehenden Code of Ethics abgelehnt werden können. Sie warb dabei für die Klarstellungen durch Stellungnahmen seitens der Fachkräfte und die Etablierung einer einheitlich zuständigen unabhängigen Beschwerdestelle als ein “menschenrechtliches Korrektiv“.

Den Beiträgen folgte eine engagierte Diskussion im Plenum und in dem begleitenden Chat des Live-Streams. Dabei wurde u. a. die eurozentristische Perspektive auf die Menschenrechte im Bildungssystem sowie die Marktmacht der Sozialen Arbeit diskutiert. Es wurde darüber hinaus auf das Deutsche Institut für Menschenrechte verwiesen, bei welchem ein Monitoring der UN-BRK und in Anfängen auch der UN-KRK stattfinde.

Eine “kreative Mittagspause“ lud die Teilnehmenden vor Ort und im digitalen Raum zu einem weiterführenden Austausch ein. Daran anschließend ging es mit den “World Cafés“ weiter. Jede_r Teilnehmende hatte die Chance, analog oder digital an drei unterschiedlichen World Cafés zu unterschiedlichen Themen teilzunehmen. Vor Ort anwesend waren u. a. Stella Shcherbatova und Dr. Stefan E. Hößl von der Fachstelle [m²] des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln. In ihrem Workshop sprachen sie über Antisemitismus als aktuelle und reale Bedrohung für Jüd_innen. Anhand eines Interviews mit “Emily“, einer jungen Studierenden aus Köln, die in ihrer Biografie bereits unterschiedliche antisemitische Erfahrungen gesammelt hat, diskutierten sie mit den Teilnehmenden über Alltagsrassismus gegenüber Jüd_innen und wie jede_r für dieses Thema sensibilisiert werden kann. Ein weiteres World-Café leitete Prof. Dr. Andreas Thimmel der Technischen Hochschule Köln. Er diskutierte mit den Teilnehmenden über Bildung und wer überhaupt definiert, was Bildung ist. Dabei kam eine lebendige Diskussion zustande, in welcher über “politische Informiertheit“ als eine der Grundvoraussetzungen für eine “menschenrechtbasiere“ Soziale Arbeit gesprochen wurde. In den Kleingruppen kamen intensive Diskussionen zustande, in die die Referent_innen sowie die Teilnehmenden sowohl vielfältige als auch persönliche Blickwinkel und Erfahrungen mit einbringen konnten.

Nach einem gemeinsamen Abendessen fand der Fachtag durch eine Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Heiner Bielefeldt, Professor und Lehrstuhlinhaber an der Universität Erlangen, und Saloua Mohammed Oulad M’Hand, Dozierende an der TH Köln, unter der Moderation von Prof. Dr. Joachim Söder einen Abschluss. Ein Konsens der Diskussion war, dass die Soziale Arbeit reflektieren müsse, inwiefern ein jeweiliges Bezugssystem, wie etwa die Religion, die volle Entfaltung der Menschenrechte einschränkt. Intersektionale, rassismuskritische Reflexionsmethoden sollten dementsprechend Teil der Grundausbildung von Sozialarbeitenden darstellen. Eine Sicherheit auf der Reflexionsebene würde dabei den Fachkräften mehr Sicherheit auf der praktischen Ebene bieten. In den Worten von Frau Mohammed: “Denn wenn nicht die Menschenrechte die Grundlage der Sozialen Arbeit bilden – was denn sonst?“

 

Zweiter Tagungstag: Menschenrechte aus verschiedenen Blickwinkeln und Ermutigung in Krisenzeiten

Der zweite Tag der Fachtagung bot den Teilnehmenden philosophische, sozialpolitische und juristische Perspektiven auf die Menschenrechte. Eingeläutet wurde der Tag durch den Fachvortrag von Prof. Dr. Joachim Söder mit einem philosophischen Blickwinkel. Dabei sprach er über den Ursprung der Menschenrechte und skizzierte die Menschenwürde als Geltungsgrund.

Im Anschluss an den philosophischen Vortrag, gab Prof.‘in Dr. Silke Tophoven der HSD eine sozialpolitische Perspektive auf die Menschenrechte. Sie befasste sich mit dem Wandel des Sozialstaates hin zu einem sozialinvestierenden, aktivierenden Sozialstaat und legte eine kritische Sicht offen. Sie stellte dabei die Barrieren dar, durch die Sozialleistungen in unserem Sozialsystem nicht in Anspruch genommen würden. Ihren Vortrag rahmte sie mit Anforderungen an eine menschenrechtliche Sozialpolitik, bei der die Entscheidungsfreiheit der Adressat_innen im Mittelpunkt stehen müsse. Dabei stellte sie die Rolle der Sozialen Arbeit heraus, die als Interessensvertretung für die Förderung und Befähigung der Adressat_innen einstehen müsse.

Dr. Thomas Meysen vom juristischen Forschungszentrum SOCLES erweiterte die Fachbeiträge um die Sicht auf die Kinderrechte. Er griff dabei ethische Dilemmata auf, die durch das Aufeinandertreffen von Eltern- und Kinderrechten entstehen könnten. Dabei machte er die Teilnehmenden darauf aufmerksam, dass die UN-Kinderrechtskonvention den Menschenrechten noch immer untergeordnet ist. Er appellierte daran, dass die Soziale Arbeit eine altersgemäße Beteiligung der Kinder in fachlichen Entscheidungsprozessen sicherstellen müsse. Die anschließende Diskussion erweiterte diese Perspektive auf die UN-Behindertenrechtskonvention und legte erneut Konfliktlinien zwischen dem staatlichen System und der Sozialen Arbeit offen.

Den Ausklang der Fachtagung übernahm Prof. Dr. Heiner Bielefeld mit einem abschließenden Impuls. Dabei warf er zunächst die Frage auf, wie oder ob eine Ermutigung in Krisenzeiten formuliert werden kann. Als Grundlage für seinen Vortrag sprach er über eine aktuelle, globale politische Desillusionierung, die durch historisch nicht vorhergesehene Ereignisse eingetreten sei, wie etwa Austritten aus der EU oder UN. Als Ermutigung in diesen Krisenzeiten sprach er über die Kraft der menschenrechtlichen Solidarität und appellierte an eine kreative, pädagogische, politische und multidisziplinäre Menschenrechtsarbeit.

Die Teilnehmenden erlebten eine qualitativ hochwertige und nachhaltige Fachtagung, welche durch rege Diskussionen und einen professionellen Austausch gerahmt wurde. Durch die vielfältigen Beiträge wurde ein Appel klar deutlich: Sozialarbeitende können sich untereinander vernetzen und durch die Menschenrechte als professionsethische Analyse- und Machtressource viel bewirken.

Die freigegebenen Aufzeichnungen und Präsentationen werden auf der Veranstaltungsseite bereitgestellt.

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